Von Plattformen und digitalen Geschäftsmodellen – Eine Annäherung
Autor: Uwe Brodtmann, Solutiance AG, CEO
Wenn man sich mit der Frage beschäftigt, welche Auswirkungen die Digitalisierung auf Geschäftsmodelle hat, ist es hilfreich zu beschreiben, was man unter Geschäftsmodellen versteht. In den letzten 20 Jahren haben unter anderem das Internet und die Nutzung von Smartphones bereits diverse Branchen und Geschäftsmodelle grundlegend verändert. Für die Beurteilung der Frage, welche Auswirkungen die Digitalisierung auf Geschäftsmodelle hat, haben wir versucht, die Dimensionen zu betrachten, in denen sich in der Vergangenheit Geschäftsmodelle durch die fortschreitende Digitalisierung verändert haben. Diese drei Dimensionen sind:
1. Die Art und Weise, wie Leistungen erbracht und inhaltlich gebündelt werden,
2. die Art und Weise, wie diese Leistungsbündel vertrieben und zugänglich gemacht werden und
3. die Art und Weise in der die Leistungen abgerechnet und vertraglich gebündelt werden.
Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die Digitalisierung neue Möglichkeiten in allen drei Dimensionen geschaffen hat und weiterhin schaffen wird. Die Musikindustrie ist dafür ein gutes Beispiel.
Zunächst wurden hier analoge Vinylplatten von digitalen CD abgelöst. Bei diesem Schritt hatten sich Marketing / Vertrieb und Distribution ebenso wenig verändert, wie die Abrechnung. Kunden kauften nach wie vor im Einzel- oder Versandhandel und mussten in der Regel das gesamte Album kaufen, auch wenn sie eigentlich nur einzelne Lieder hören wollten. Sowohl der Vertriebsweg, als auch die Abrechnung (nicht aber die Leistungserbringung), änderte sich mit itunes. Apple hatte mit den Plattenlabels verhandelt, auch einzelne Lieder verkaufen zu können. Dieses „Unbundling“ machte es für Kunden einfach und preiswert, über die Plattform Musiktitel auch einzeln zu kaufen. Mit der technischen Entwicklung der verfügbaren Bandbreite zur Datenübertragung kam aus Kundensicht eine weitere Option dazu: der Streamingdienst Spotify, bei dem man per Abonnement zahlt, oder per Duldung von Werbeeinblendungen. Hier änderte sich das Vertrags- und Preismodell, aber weder die Leistung an sich, noch der Vertriebskanal. Was zunächst im Modell itunes entbündelt wurde, setzte Spotify zu neuen Bündeln zusammen.
Eine ähnliche Entwicklung gab es in einem anderen heute prominenten Medienunternehmen. Netflix hat als Online DVD 1997 begonnen. Mit der nötigen Bandbreite startete das Unternehmen 2007 die Distribution der verliehenen Filme per Streaming, statt physischer Lieferung. Heute kann man Netflix ebenfalls im Abo beziehen. Zudem hat Netflix damit begonnen, bei der Leistungserbringung selbst als Produzent tätig zu werden.
Wie schon kurz skizziert, wurden diese Veränderungen durch technische Entwicklungen in verschiedenen Bereichen möglich. Will man die Auswirkungen der Digitalisierung auf Geschäftsmodelle verstehen, muss man bis zu einem gewissen Grad die technologischen Aspekte verstehen, die Veränderungen ermöglichen. Bei den Beispielen Spotify und Netflix war eine ausreichende Bandbreite zur fehlerfreien Datenübertragung eine Voraussetzung.
Das Internet und das darauf basierende World Wide Web basieren, vereinfacht gesagt, auf einer gut funktionierenden Kombination aus ausreichender Rechenleistung, fehlerfreier Datenübertragung und der Fähigkeit per Software, Daten zielführend zu verarbeiten und aufzubereiten. Smartphones sind ein Beispiel für sehr leistungsfähige Rechner die mit diversen Zusatzkomponenten versehen sind, die diverse neue Geschäftsmodelle überhaupt erst möglich gemacht haben. Erst als diese Geräte und die darin eingebetteten Systeme eine Größe erreicht hatten, die im Alltag einfach nutzbar war, wurden sie zum Verkaufsschlager, der die Welt verändert hat. Die Größe und Usability der Geräte machte zudem ganz neue Geschäftsmodelle überhaupt erst möglich. So ist z.B. der Einsatz von GPS-Sensoren die Basis für alle geo-basierten Angebote. Eine andere Branche, in der die technologische Entwicklung neue Geschäftsmodelle überhaupt erst möglich gemacht hat, ist die Automobilindustrie, bzw. um genauer zu sein die Mobilitätsindustrie.
BMW, Sixt, Car2Go und Uber sind Beispiele dafür, wie Kunden in verschiedenen Szenarien Ihre Nutzenerwartungen mit unterschiedlichen Leistungsbündeln über unterschiedliche Vertriebskanäle zu unterschiedlichen Vertragsbedingungen decken. Sowohl Car2Go, als auch Uber wurden erst durch die Einführung von Smartphones mit ubiquitär verfügbarer und wiederum ausreichender Bandbreite möglich.
Das Internet und seine Anwendungsbereiche bieten darüber hinaus natürlich eine Fülle an neuen Geschäftsmodellen, die erst mit der Ausbreitung schneller, leistungsfähiger Rechner / Zugangsgeräte, Software und Datenverbindungen möglich wurden. Diese Entwicklung hat auch dazu geführt, dass alte Geschäftsmodelle gleich von zwei Seiten angegriffen wurden. Die Zeitungsindustrie hat auf der einen Seite zahlende Abonnenten verloren und auf der anderen Seite Werbekunden. Diese Werbekunden setzen in Ihren Geschäftsmodellen in der Dimension Marketing / Vertrieb / Distribution jetzt auf Internetkanäle, in denen zum einen die Effekte der eingesetzten Budgets besser messbar sind und die Streuverluste geringer. Die gleiche Entwicklung des Verschiebens von Werbegeldern hat auf der anderen Seite neue Chancen eröffnet. So bietet z.B. Youtube neue Möglichkeiten, Inhalte zu präsentieren und sich dafür mit Werbegeldern bezahlen zu lassen.
Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee, zwei Ökonomieprofessoren vom MIT, fassen ein Geschäftsmodellphänomen des Internetzeitalters wie folgt zusammen:
„Platforms are online environments that take advantage of the economics of free, perfect, and instant. To be more precise, a platform can be defined as a digital environment characterized by near-zero marginal cost** of access, reproduction, and distribution. The Internet, of course, is the platform most familiar to most of us, and the one responsible for the industrial disruptions we described earlier. In a sense, it is a platform of platforms.“*
*Brynjolfsson, Erik; McAfee, Andrew. Machine, Platform, Crowd: Harnessing Our Digital Future (S.137). W. W. Norton & Company. Kindle-Version.
Die Attribute kostenlos (free), perfekt und sofort (instant) gelten dabei natürlich nur für digitale Inhalte und Formate. Facebook, Twitter und Co sind ideale Beispiele. Ein Blick auf Plattform Geschäftsmodelle zeigt aber, dass inzwischen auch viele Unternehmen entstanden sind, die auf Ihren Plattformen die Welt der bits mit der Welt der Atome verbunden haben. Immer wenn also physische Produkte oder Dienstleistungen ins Spiel kommen, müssen sich die Geschäftsmodelle auch an den Bedingungen der Realwelt ausrichten.
Für die Beurteilung der Auswirkungen der Digitalisierung auf Geschäftsmodelle sind also die beschriebenen drei Dimensionen der Veränderung von Geschäftsmodellen ebenso hilfreich, wie die Betrachtung der technischen Rahmenbedingungen der Digitalisierung. Damit aber nicht genug. Eine weitere wichtige Perspektive ist der Kontext, in dem ein Geschäftsmodell in einer Branche betrachtet werden soll.
Bei der Analyse des Kontexts kommt mit dem technischen Umfeld eine weitere technologische Perspektive ins Spiel, die eben schon kurz mit Blick auf die Welt der Atome angesprochen wurde. Natürlich ist auch dieses Umfeld von der Entwicklung der Digitalisierung beeinflusst. Aber es kommen weitere Aspekte dazu. So wird z.B. der 3D-Druck diverse Geschäftsmodelle in allen drei betrachteten Dimensionen, also bei der Leistungserbringung, in Vertrieb / Distribution und in der Vertragsgestaltung verändern. So müssen beispielsweise Ersatzteile für Maschinen oder Flugzeuge nicht mehr bei dringendem Bedarf durch die Welt geflogen werden, sondern können mit Hilfe neuer Designsoftware vor Ort produziert werden. Ein Umstand, der mindestens die Leistungserbringung und Distribution verändern wird. Aber dafür müssen auch nicht digitale Probleme z.B. in den Bereichen Werkstoffkunde, Chemie, Maschinenbau, etc. gelöst werden.
Zum Kontext einer Branche zählt auch das regulatorische Umfeld, also die Entwicklung von rechtlichen Rahmenbedingungen. So wird das technisch mögliche autonome fahren von Autos im Alltag wohl erst möglich sein, wenn alle rechtlichen Fragen der Verantwortung im Fall von Schäden geklärt und in Gesetzen und Verordnungen umgesetzt sind.
Mit der Betrachtung der Dimensionen für Geschäftsmodelle, des technischen Rahmens der Digitalisierung und des Kontexts hat man also drei Perspektiven, die man relativ gut strukturiert beleuchten kann.
Eine weitere Perspektive, die sich ungleich schwerer beschreiben oder prognostizieren lässt, ist die Veränderung von Nutzenerwartungen bei Kunden in einer volatilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Umwelt. Die Erfahrung der jüngeren Vergangenheit zeigt, dass agile Methoden bei der Entwicklung von Lösungen und Geschäftsmodellen hilfreich sind. Trial and Error ersetzen den langfristigen Plan. Methoden wie Design Thinking sorgen dafür, dass sich Unternehmen mit Ihren Kunden und deren Erwartungen in einer Art und Weise auseinandersetzen können, die schnell zu messbaren Ergebnissen führt.
Wer sich mit den Chancen und Risiken der Digitalisierung für sein Unternehmen beschäftigen will, kommt also nicht umhin, sich gedanklich in verschiedenen Dimensionen zu bewegen und sich auf neue Themen einzulassen.
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