Die Geschichte einer Transformation
Autor: Uwe Brodtmann, CEO (Solutiance AG)
Wie alles begann
Im Jahr 1992 gründete Andreas Rödel die ITD GmbH. Rödel hatte in Clausthal und Berlin Bergbau studiert und war damals, wie noch heute, ein unternehmerischer Erfinder. Um seine hoffnungsvollste Entwicklung, ein Leakage-Warnsystem für Deponieabdichtungen, zu vermarkten überzeugte er seinen Freund Uwe Brodtmann davon, gemeinsam das Unternehmen weiter zu entwickeln. Brodtmann hatte nach einer Bankausbildung ein BWL-Studium an der WHU absolviert und war im Jahr 1993 Leiter einer Landesgeschäftsstelle der Debeka Versicherung. Die gemeinsame Firma hieß fortan Progeo Geotechnologie GmbH. In den folgenden Jahren entstanden aus dem Warnsystem für Deponien auch Monitoringsysteme für Bauwerksabdichtungen wie z.B. Wasserbecken, Tunnel und nicht zuletzt Flachdächer. Insbesondere der Markt für Flachdächer schien gewaltige Wachstumspotenziale zu bieten.
Unter diesem Eindruck und begünstigt von der Entwicklung der Finanzmärkte gründeten Rödel und Brodtmann die Progeo Holding AG, die sie im Oktober 1997 an die Börse brachten. Die operative Gesellschaft wurde im Zuge dieser Veränderung in Progeo Monitoring GmbH umbenannt, weil man nun nicht mehr nur in der Geotechnik unterwegs war.
Die Wachstumserwartungen des immer noch jungen Unternehmens waren getragen von der initialen Resonanz der Bau- und Immobilienwirtschaft auf die neuen Möglichkeiten der Überwachung des Problembauteils Flachdach. Schon bald zeigte sich aber, dass die Bereitschaft der Bauherren Geld für mehr Sicherheit auszugeben, kleiner war, als die Hoffnung, dass bei dem gerade jetzt anstehenden Bauwerk schon nichts passieren würde.
So kam es, dass der Aufsichtsrat der Progeo Holding AG im Jahr 1999 Brodtmann durch ehemalige McKinsey Berater ersetzte, die das Unternehmen auf Kurs bringen sollten. Schon sehr bald war klar, dass die Herausforderungen des Marktes auch mit einem anderen kaufmännischen Management nicht zu lösen waren. Die neuen Vorstände verließen das Unternehmen nach wenigen Monaten wieder.
Technologie als Treiber
Als alleiniger Vorstand richtete Andreas Rödel das Unternehmen an den Gegebenheiten des Marktes aus. Er versuchte, mit neuen technischen Lösungen neue Märkte zu erschließen und in bestehenden Märkten für eine höhere Akzeptanz und Marktgängigkeit der Produkte zu sorgen. Dabei war das Unternehmen weiterhin innovativ und nutzte die technischen Möglichkeiten der Digitalisierung. Eine Wende schien gekommen, als am 2. Januar 2006 das Dach der Eishalle in Bad Reichenhall einstürzte und 15 Menschen dabei ums Leben kamen. Für eine kurze Zeit wurde der Ruf nach Monitoringsystemen für Dachabdichtungen laut und Progeo hatte die entsprechenden Lösungen. Die Hoffnung auf einen Aufschwung war jedoch nur von kurzer Dauer. Zu oft setzten Bauherren weiter auf das Prinzip Hoffnung, als auf die Monitoringsysteme von Progeo. Und so blieb das Geschäft mit Flachdächern über die Jahre schwierig und das Geschäft mit Deponien ging zurück, weil immer weniger gebaut wurde. Das Unternehmen stand vor der Frage, wie man eine Zukunft gestalten könnte. So kam es, dass Andreas Rödel am Ende eines Gedankenaustauschs bei einigen Gläsern Rotwein seinen Freund Uwe Brodtmann fragte, ob er sich vorstellen könne, wieder ins Unternehmen zurück zu kommen.
Zum Zeitpunkt des Anstoßes von Rödel im Jahr 2014 hatte Brodtmann als CEO von Softwareunternehmen die Entwicklung der Digitalisierung in der Automobilindustrie hautnah erlebt. Dabei hatten ihn unter anderem die Jahre im Umfeld des Hasso Plattner Instituts und der angegliederten Design School beeinflusst.
Der erste Schritt zum Digital Mindset
Am 1. Juli 2015 starteten Rödel und Brodtmann die neue Zusammenarbeit als Vorstände der Progeo Holding AG und Geschäftsführer der Progeo Monitoring GmbH. Sie starteten mit der Hypothese, dass die fortschreitende Miniaturisierung, die dramatische Kostenreduzierung von Sensoren und Sendetechnologien und die zunehmende Digitalisierung des gesamten Lebens zu einem Aufschwung der Monitoringsysteme führen müsste. Wenn IoT auf dem Vormarsch ist, hat Progeo Erfahrungen im Bereich Sensorik in Bauwerken und entsprechende Produkte zu bieten.
Aber nach wie vor war die Technologie der Treiber für die Entwicklung des Unternehmens. Das änderte sich im Frühjahr 2016, als sich abzeichnete, dass der Absatz von Monitoringsystemen auch mit Onlineanbindung und Zugang per Smartphone nicht das für den langfristigen Fortbestand des Unternehmens nötige Wachstum schaffen würde. Diese Situation führte bei Rödel und Brodtmann zu einer Veränderung der Perspektive, die vermutlich ein wichtiges Merkmal eines Digital Mindset ist.
Im Frühjahr 2016 fingen Rödel und Brodtmann an, nicht mehr technische Lösungen anzubieten, sondern Kunden zu fragen, was ihre Probleme sind. Die Frage lautete: „Liebe Kunden, wenn Sie sehen, was wir machen und gut können, wo gibt es bei Ihnen Probleme, von denen Sie denken, dass wir sie lösen können?“ Die Antworten waren mehr oder weniger übereinstimmend: „Ganz ehrlich Jungs, Eure Monitoringsysteme, die sind ja wirklich nicht schlecht. Aber die bauen wir vielleicht im Dach auf dem Rechenzentrum ein, oder über dem Showroom. Aber in den anderen 153 Gebäuden, da machen wir das nicht. Aber wir haben auf jeden Fall Probleme mit Flachdächern. Wenn Ihr Euch was Schlaues einfallen lasst, wie man das im Zuge der Instandhaltung intelligenter machen kann, dann ist das auf jeden Fall interessant.“
Und so entwickelte Progeo ein Konzept für die Instandhaltung von Flachdächern und ging damit wieder zurück zu Kunden mit der Frage: „Meinen Sie das so?“ Da, wo die Antwort „Ja.“ lautete, fragte Progeo nach einem bezahlten Pilotprojekt, um zu testen, wie hoch das tatsächliche Interesse ist. Die ersten Projekte kamen von renommierten Unternehmen und der öffentlichen Hand.
Der Beginn der Transformation
Für die Umsetzung des Konzepts für eine effiziente Instandhaltung von Flachdächern brauchte es nun aber andere Kompetenzen sowohl auf der Hardware-, als auch auf der Softwareseite. Die fand Progeo über Brodtmanns Kontakte ans Hasso Plattner Institut in Potsdam. Die Conclutec GmbH, gegründet von Jonas Enderlein und Robin Jörke, beide Absolventen des HPI, hatte von Hasso Plattner Ventures eine erste kleine Finanzierung erhalten und damit eine Software für eine digitale Signatur entwickelt. Enderlein und Jörke waren von der Idee begeistert, mit ihrem Team eine Plattform für die Instandhaltung von Flachdächern zu entwickeln, und so begann im Sommer 2016 die Zusammenarbeit zwischen Progeo und Conclutec.
Kern des Konzepts war die Erfassung von Zuständen auf Flachdächern mit Hilfe von 360° Kameras und Detailfotos per Handykamera, die mit Hilfe von hochauflösendem GPS auf 10 cm genau lokalisiert werden können. Auf Basis dieser Informationen sollten im Nachhinein am Rechner Experten Bauteile und Schäden kategorisieren und Kostenschätzungen abgeben. Ein wichtiger Schritt bei der Vermeidung und Prognostizierung von Schäden.
Ein Vorteil in der neuen Konstellation war der Umstand, dass die ersten Prototypen für echte Kunden entwickelt wurden. Waren die ersten Piloten noch auf Basis einer Power Point Präsentation gewonnen worden, so wurden weitere Kunden bereits auf Basis eines MVP (Minimum Viable Product) akquiriert. Dieser nächste Baustein eines Digital Mindset, der für das Team Conclutec aufgrund ihrer Ausbildung selbstverständlich war, hielt nun Einzug bei Progeo und deren Kunden.
Die nächsten Entwicklungsschritte konnten nun bereits systematischer auf Basis des Feedbacks von Kunden umgesetzt werden. Zudem wurde der Input der eigenen Mitarbeiter aufgenommen, die die Dächer mit Hilfe von Kameras und Apps vor Ort erfassen und der Kollegen, die hinterher am Rechner die Auswertung machen.
Die Umsetzung der Transformation
Im Jahr 2017 machte die Progeo Holding AG zwei weitere große Schritte auf dem Weg der Transformation. Der erste war die Umfirmierung in Solutiance AG. Die Marke Solutiance ist ein Kunstwort, das sich aus den Teilen Solutions und Maintenance (Wartung / Instandhaltung) zusammensetzt. Es spricht sich aber wie das Wort Solutions. Mit der Umfirmierung in Solutiance AG war der erste Schritt zu einer Neupositionierung sowohl am Kapitalmarkt (die Aktie hatte inzwischen bereits einen erfreulichen Aufschwung genommen) als auch am Markt für Kunden geschafft. Im nächsten Schritt übernahm die Solutiance AG die Conclutec GmbH gegen die Ausgabe neuer Aktien an die beiden Gründer Jonas Enderlein und Robin Jörke. Die Conclutec GmbH hieß fortan Solutiance Systems GmbH.
Im Frühjahr 2018 folgte der Verkauf der Progeo Monitoring GmbH an Andreas Rödel, der in diesem Zusammenhang sein Vorstandsmandat in der Solutiance AG niederlegte. Rödel ist weiterhin Aktionär der Solutiance AG und dem Unternehmen freundschaftlich verbunden. Im Juli 2018 wurde Jonas Enderlein zum Vorstand der Solutiance AG bestellt.
Digital Mindset bei Solutiance
Die neue Solutiance AG mit ihren operativen Tochtergesellschaften ist vollständig fokussiert auf das Geschäft mit softwarebasierten Dienstleistungen für den Betrieb von Immobilien. In diesem Zusammenhang kommen mit Design Thinking und Business Process Modeling Methoden zum Einsatz, die ebenfalls Elemente eines Digital Mindsets sind. Dabei arbeiten Menschen aus unterschiedlichen Disziplinen daran, gemeinsam bessere Lösungen zu entwickeln. Ein Prozess, in dem immer wieder Welten aufeinanderprallen, wenn z.B. Handwerker und Ingenieure mit Produktmanagern und Entwicklern diskutieren.
Eine Erkenntnis, die das Team bei Solutiance in internen Diskussionen und im Austausch mit Kunden und Partnern gewonnen hat, ist, dass mehr Software und Technik nicht unbedingt zu besseren Lösungen führen. Digital Mindset bedeutet bei Solutiance die absolut neuesten technischen Möglichkeiten zu kennen, zu wissen, wo man sie heute einsetzen kann und zu antizipieren, was man heute tun muss, um für die Zukunft gerüstet zu sein. Es ist aber klar, dass die Lösung des Problems im Vordergrund stehen muss und nicht die theoretischen technischen Möglichkeiten. Daran scheitern reine Software- und Technologieprojekte immer wieder.
Solutiance bietet heute hybride Lösungen aus Dienstleistung von Menschen vor Ort und Bereitstellung von Informationen per Software. Kunden bezahlen nur für die Dienstleistungen, haben aber über Software vollständige Transparenz. Zusätzlich zum Dachmanagement 4.0 hat sich das Unternehmen inzwischen auch zum Lösungsanbieter rund um das Thema Management von Betreiberpflichten entwickelt. Kunden, die die Entwicklung von Solutiance erlebt haben, sind die besten Impulsgeber. Sie wissen, dass ein interdisziplinäres Team daran arbeitet, ihre Perspektiven zu verstehen und in Lösungen umzusetzen.
Die Teams bei Solutiance arbeiten in einer Atmosphäre, bei der alle Beteiligten vom Vorstand bis zum Werkstudenten auf Augenhöhe in Diskussionen gehen. Die bessere Idee gewinnt. Manches muss man probieren, wenn man nicht weiß, was die beste Lösung ist. Und es darf gestritten werden. Am Ende müssen aus Ideen und Konzepten erfolgreiche Business Cases werden.
Der Maßstab für einen erfolgreichen Business Case sind dabei die drei Dimensionen, Qualität der Leistungen, Aufwand / Kosten der Umsetzung und Transparenz im Sinne von einfachem Zugang von Informationen für alle Stakeholder. Und der ultimative Maßstab für den Erfolg ist die Bereitschaft des Kunden dafür einen auskömmlichen Preis zu zahlen.
Und was lernen wir daraus
Die Transformation von Progeo zu Solutiance ist, insbesondere aus der Perspektive großer Unternehmen, sehr schnell gegangen. Die Geschwindigkeit, mit der sich Solutiance jetzt entwickelt ist, ist rasant. Eine solche Entwicklung ist für große Unternehmen kaum möglich. Was das Management in großen Unternehmen aber systematisch fördern kann, ist der Einsatz von relevanten Methoden und die Schaffung einer Unternehmenskultur, die Teams dazu motivieren, den Problemen ihrer Kunden auf den Grund zu gehen.
Der Prozess des gemeinsamen Entwickelns neuer Lösungen ist für Mitarbeiter und Kunden, die ja alle Menschen sind, eine spannende Erfahrung. Es macht Spaß, neue Wege zu gehen. Am besten passiert das aber schon, bevor ein Unternehmen, oder eine Geschäftseinheit in Probleme läuft. So lange noch Geld verdient und investiert werden kann, sind die Spielräume da. Der Methodenkasten ist da, es gibt Beratungsunternehmen, die dabei unterstützen. Aber es braucht den Willen in Unternehmen, die Mitarbeiter auf eine spannende Reise mitzunehmen. Solutiance zeigt, dass auch Mittfünfziger aus dem Handwerk noch viel Spaß daran haben, neue Wege zu gehen.
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